Sie zeichnet ein etwas anderes Bild als der Grenzgendarm. Vieles ähnelt sich wohl, vieles unterscheidet sich drastisch. Prägend war auch für sie der Kontakt mit Flüchtlingen, eher vielleicht sogar, als der Kontakt mit den anderen Kindern ihres Ortes. Als ihr Vater noch lebte, wurde er oft zum Gemeindeamt gebeten, um zu übersetzen. Er sprach acht Sprachen. Er starb als sie vier war, und oft kamen Gendarmen mit den am Kogel oder in der Nähe des Kogels, aufgesammelten Menschen zu ihrer Mutter, einer Slowenin, die auch Kroatisch und Deutsch beherrschte. Später schickte man diese oft per Fingerzeig zu ihnen. Ihre Mutter pflegte, ihnen dann in einem großen Waschbottich, war’s Zinn oder Zink, ein heißes Bad einzulassen. Sobald der Schmutz der langen Wege über Wiesen und Wälder, durch Äcker und Gräben, beseitigt war, bereitete sie ein kleines Mahl zu. Danach bekamen sie einen Platz zum Schlafen, einige brauchten auch länger als 12 Stunden, um sich zu erholen. Unbefriedigte basale Bedürfnisse und Sprachbarriere gleichermaßen waren, fürs Erste, vorbei. Und mindestens Einer weinten vor Erleichterung. Manche kamen Jahre später zurück, um zu sehen, ob diese Frau noch lebte. Sie war nie alleine am Hoarrachkogel, nicht als Kind zumindest. Mit ihrer Mutter das eine oder andere Mal, gepackt vom Schwammerlfieber. Und dort trafen sie natürlich auf Grenzsoldaten, und das kleine Mäderl, das sie damals war, hatte natürlich Angst vor diesen bedrohlichen, in Uniform mit Gewehr durch den Wald streifenden und sie, bei Kontakt, zum Stehenbleiben! anrufenden Männern. Zumal es ja so war, dass die Soldaten quer durch das Land transportiert wurden, um ihren Dienst zu tun, Süd nach Nord, Ost nach West und umgekehrt. Und ihre Mutter, die für die Soldaten eindeutig Österreicherin war und mit ihrer Tochter Deutsch sprach, machte sich einen Spaß daraus, diese Grenzstreife ein wenig auf Kroatisch anzuquatschen. Und die waren dementsprechend perplex und wussten nicht mehr ein noch aus. Für ihre Tochter waren solche Situationen hingegen vielmehr mit Angst als mit harmlosem Sprachspaß besetzt, und sie ging nicht gern hinauf. Alleine sowieso nicht. Sie erzählt mir, es seien ja auch schlimme Dinge geschehen an dieser Grenze. Eine Gärtnerfamilie, die dort in der Nähe wohnte, und ihr Brennholz in den Wäldern am Hoarrachkogel sammelte – Vater, Mutter, Kind, in Arbeitskluft durch den Wald stapfend –wurde dort von Grenzposten festgenommen. Womöglich waren sie im Unterholz unabsichtlich über die Grenze getreten, ohne dies zu wollen und auch abstreitend, die österreichische Seite je verlassen zu haben, wie dem auch sei, es endete für diese drei in Marburg, wo sie so lange als Spione im Verhör saßen bis klar wurde, dass sie keine waren. Doch auch diesseits war Repression spürbar. Ihr Vater wurde bezichtigt, ein Kommunist zu sein. Weil er acht Sprachen sprach, darunter Slowenisch, Russisch, Kroatisch. Und er hatte Angst, eingesperrt zu werden. Er war in drei Konzentrationslagern gewesen, als politischer Gefangener. Er wusste, wovor er sich fürchtete. Und auch nach seinem Tod war es nicht vorbei, auch ihre Mutter war nicht vor Anfeindung gefeit. Sie war „die Windische“– und daher suspekt.
Auch blieben ihr die abenteuerlichen Kurzbesuche in Jugoslawien verwehrt, sie besaßen keinen Grenzübertrittsschein, da sie – offiziell, denn Ackerbau und Tierhaltung war gang und gäbe, auch bei ihnen –keine Bauern waren. Für ihre Familie war die weiche Grenze, die der Grenzgendarm beschrieb, keine solche. Für sie war die Grenze dicht. Und sie erzählt von viel Groll auf beiden Seiten der Grenze, von Missverständnissen mit den Doppelgrundbesitzern und von an der plötzlichen Grenzziehung zerbrechenden Familien. Auch deswegen ist sie froh, dass es jetzt anders ist. Offen. Besser. Und sie wünscht sich, ihre Mutter hätte das noch miterleben dürfen. Doch auch jetzt noch sieht sie Probleme, die sie teilweise erschrecken. Junge Menschen, die nichts von diesem Schrecken miterlebt haben, springen auf den Nationalistenzug auf und sind mehr als nur reserviert gegenüber dem Nachbarn. Auch Menschen, die sich selbst als gebildet und modern ansehen, mit abgeschlossenem Studium und gut situiert, fragen, ob wohl keiner von „dort unten“ zur gemeinsam besuchten Veranstaltung eingeladen ist. Oder sind perplex, wenn nicht fast angewidert, wenn man nach Slowenien fährt, um dort Essen zu gehen. „Wie kannst du dort hinfahren Essen? Das kann man doch nicht essen!“ Sie versteht es nicht. „Das sind die Fremden und die sind böse und die wollen uns nur bestehlen und betrügen, und die nehmen uns alles weg.“ Solche Ansichten existieren. Nach wie vor. „Und es sind nicht nur die Menschen, die aus Afghanistan oder Syrien oder ich weiß nicht, woher, sondern es sind meine Bekannten und Freunde und Verwandten, und es erschreckt mich, dass es das heute noch gibt. Und ich fürchte, dass, je enger die ökonomische Situation auch für Österreich sein wird, desto mehr kommt dieses Gefühl…“ Sie glaubt, dass Menschen leicht aufzustacheln und zu verhetzen sind. Gerade dann. Sie hofft, dass es genug Vernünftige gibt –und geben wird –dass sich die Menschen nicht gegenseitig den Schädel einschlagen, sollte es wirklich wieder „eng“ werden. Sie glaubt an die Kraft von engerem Kontakt und freut sich über das Projekt „Hoarrachkogelgeschichten“ und die grenzübergreifende Idee. Es gibt nicht nur schlechte Verhältnisse, das sieht sie natürlich auch. Im Mai 1945 hätte sich niemand gedacht, dass es, trotz aller giftigen Gedanken, die nach wie vor herumspuken, ein so friedfertiges und offenes Verhältnis geben würde. „Und so bin also sehr optimistisch, dass es besser wird.“
Natalie Baggovout, 14. August 2013, Leibnitz
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